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Im Fokus: Bevölkerungsentwicklung der ostdeutschen Städte seit 1990 – Fiktion oder Wirklichkeit?

Die Einwohnerzahl und ihre Entwicklung im Zeitverlauf sind zwei der wichtigsten Indikatoren für die Beurteilung der Perspektiven einer Stadt bzw. für die Wahl kommunalpolitischer Strategien. Auch für Investitions- und Standortentscheidungen von Unternehmen sind dies relevante Größen. Der Beitrag zeigt anhand einer Analyse für die 132 größten Städte Ostdeutschlands, dass die von der amtlichen Statistik veröffentlichten Bevölkerungszahlen, die periodisch auf der Grundlage von Fortschreibungen und Volkszählungen zum jeweiligen Gebietsstand ermittelt werden, die demographische Entwicklung der Städte nur bedingt widerspiegeln, da der Einfluss von Gebietsänderungen nicht ohne Weiteres erkennbar ist. Für einen aussagefähigen Städtevergleich ist es unabdingbar, territoriale Veränderungen z. B. infolge von Gemeindegebietsreformen zu berücksichtigen. Dies kann zu einer veränderten Sichtweise beim Vergleich der Entwicklung von Städten führen.

19. Februar 2015

Autoren Albrecht Kauffmann

Für die Beurteilung der Entwicklung einer Stadt oder einer Region spielen Bevölkerungsmerkmale eine wichtige Rolle. Bei konstantem Gemeindegebiet ist die Veränderung der Einwohnerzahl einer Stadt auf Zu- und Abwanderung, Geburten und Sterbefälle zurückzuführen. Anders als bei aggregierten Betrachtungen auf der Ebene von Ländern oder Ost- und Westdeutschland darf jedoch bei kommunalen Gebietskörperschaften nicht stillschweigend ein unveränderliches Territorium angenommen werden. Stattdessen schleicht sich – häufig unbeachtet – eine weitere Komponente in die Einwohnerentwicklung einer Stadt ein, wenn der Zuschnitt ihres Gemeindegebiets im betreffenden Zeitraum – am häufigsten als Folge von Eingemeindungen oder Gemeindezusammenschlüssen – eine bevölkerungswirksame Änderung erfährt. In den Neuen Bundesländern ist die Zahl der Gemeinden vor allem infolge von Gemeindegebietsreformen seit 1990 von 7 613 auf 2 674 (Stand zum 31.12.2014) zurückgegangen.

Die scheinbar triviale Frage nach der Darstellung der Entwicklung von Städten und Gemeinden in konstanten Gemeindegrenzen lässt sich anhand der amtlichen Daten nicht unmittelbar beantworten. Es ist jedoch möglich, spätere (z. B. die aktuellen) Gebietszuschnitte auf frühere Zeitpunkte zu übertragen. Die auf diese Weise für den frühen Zeitpunkt gewonnenen Einwohnerzahlen sind insofern fiktiv, als sie eine Bevölkerungsverteilung simulieren, welche vorläge, wenn die späteren Gemeindegebietsveränderungen schon früher stattgefunden hätten. Werden aus den heutigen und den früheren Einwohnerzahlen in konstant gehaltenen Gemeindegebieten Wachstumsraten ermittelt, muss bei deren Interpretation berücksichtigt werden, dass Eingemeindungen lokale Entwicklungsprozesse beeinflussen können. Dies gilt auch für Orte, die nicht selbst von Eingemeindungen betroffen waren. Manche Entwicklungen, die z. B. durch den Zugewinn neuer Flächen für Wohn- oder Gewerbegebiete in Gang gesetzt wurden, wären heute in einem anderen Stadium, wenn Eingemeindungen oder Zusammenschlüsse zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt stattgefunden hätten. Beim Städtevergleich des Bevölkerungswachstums in konstanten Gebietsgrenzen werden jene Bevölkerungszuwächse, die sich als Folge von Eingemeindungen für die betreffenden Städte ergeben, berücksichtigt. Aus einem solchen Vergleich lassen sich jedoch keine Aussagen darüber ableiten, wie die langfristige Entwicklung verlaufen wäre, wenn es keine Gemeindegebietsreformen gegeben hätte.

Der vorliegende Beitrag beschreibt die Ermittlung von Bevölkerungsdaten in konstant gehaltenen Gemeindegebieten und analysiert die Ergebnisse für die 132 nach heutiger Abgrenzung im Jahre 1990 größten ostdeutschen Städte. Er weist aus, wie stark das Bevölkerungswachstum dieser Städte in konstant gehaltenen Grenzen vom amtlich berichteten Wachstum in den jeweiligen Grenzen abweicht, und er nimmt eine Gruppierung der Städte nach Mustern ihrer Wachstumsverläufe in konstanten Grenzen vor. Abschließend wird der Einfluss der Veränderungen von Gemeindegrenzen auf die Rangfolge der Städte im Hinblick auf ihr Bevölkerungswachstum gezeigt.

Amtliche Bevölkerungsstatistik reflektiert nicht die demographische Entwicklung der meisten ostdeutschen Städte

In Deutschland werden die Ergebnisse der Fortschreibung der Bevölkerungszahlen vierteljährlich für alle Gemeinden vom Statistischen Bundesamt zum jeweiligen Gebietsstand veröffentlicht; darüber hinaus gibt es eine Jahresausgabe des Gemeindeverzeichnisses (Stichtag 31.12.), die mit der jährlich herausgegebenen Liste der Gemeindegebietsänderungen korrespondiert. Diese Daten sind für (Gesamt-)Deutschland seit 1990 verfügbar. 

In Tabelle 2 am Ende des Beitrags sind zwei Wachstumsraten der Einwohnerzahlen der 132 Städte einander gegenübergestellt. Die erste Wachstumsrate (Spalte 2) ergibt sich aus dem Bevölkerungszuwachs zwischen 1990 und 2013 für jenes Gebiet, das die Gemeinde zum Stichtag 31.12.2013 umfasste, in Prozent der Bevölkerungszahl dieses Gebiets 1990. Die zweite Wachstumsrate (Spalte 3) wurde aus den in den Gemeindeverzeichnissen für 1990 und 2013 für diese Städte in ihren jeweiligen Abgrenzungen veröffentlichten Einwohnerzahlen, bezogen auf die Einwohnerzahl in den Grenzen von 1990, ermittelt. Die in Spalte 4 mitgeteilte Zahl der am heutigen Stadtgebiet beteiligten Gemeinden in den Grenzen von 1990 gibt Auskunft darüber, ob eine bevölkerungsrelevante Veränderung des Gemeindegebiets stattgefunden hat. Nur 18 der 132 Städte sind hiervon nicht betroffen, d. h., Spalte 4 weist eine „1“ aus (z. B. Falkensee, Halle (Saale) oder Weißwasser/O.L.). In allen anderen Fällen wird ein mehr oder weniger deutlich größeres Wachstum ausgewiesen, wenn vom Gebietsstand von 1990 ausgegangen wird. In 19 Fällen ändert sich nicht nur der Betrag, sondern auch das Vorzeichen der Wachstumsrate; d. h., hinter dem positiven Bevölkerungswachstum einer Stadt, das bei Betrachtung der für den jeweiligen Gebietsstand veröffentlichten Bevölkerungszahlen ermittelt wird, kann ursächlich auch der Gebietszuwachs stehen; ohne diesen ergäbe sich ein Bevölkerungsrückgang. Zu diesen Städten zählen z. B. Bad Langensalza, Leipzig, Ludwigsfelde sowie viele Städte Sachsen-Anhalts, deren Territorium sich im Zuge der Gemeindegebietsreform von 2009 bis 2011 stark vergrößert hat. In den meisten der 132 Städte – aber nicht in allen – war die Bevölkerungsentwicklung in konstanten Grenzen rückläufig, und zwar in einem breiten Spektrum mit unterschiedlichen Tendenzen, die zu unterschiedlichen Mustern von Wachstumsverläufen verdichtet werden können.

Ende des Schrumpfens tatsächlich erst in wenigen Fällen erreicht

Für die Analyse des Bevölkerungswachstums im Zeitverlauf wurden gleitende Durchschnitte dreier aufeinanderfolgender Jahre gebildet, deren Zeitreihen von 1991 bis 2012 reichen. Weist eine solche Zeitreihe ein Minimum zwischen 1991 und 2012 auf, wird von einem „U-förmigen Verlauf“ gesprochen, wenn das Wachstum nach Durchschreiten des Minimums ein gewisses Mindestmaß (1% insgesamt) überschreitet. Diese Städte haben also (in konstanter Gebietsabgrenzung) wieder zu wachsen begonnen. Ist das Wachstum danach positiv, aber höchstens 1%, wird dies als „L-förmiger Verlauf“ bezeichnet. Von einem „L-förmigen Verlauf“ soll hier auch in Fällen negativen Wachstums nach 2007 gesprochen werden, wenn dieses den Wert von −3,5% insgesamt nicht unterschreitet. In beiden Fällen sind die Schrumpfungsprozesse stark rückläufig; im ersten Fall ist eine Phase des Null-Wachstums bereits erreicht. Tabelle 1 zeigt die Häufigkeitsverteilung der sich anhand dieser Kriterien ergebenden Wachstumsverläufe. In Tabelle 2 sind die Städte entsprechend dieser Gruppierung aufgelistet; die Reihenfolge innerhalb der Gruppen folgt der Wachstumsrate in Spalte 2.

Bei der Interpretation von Rankings ist Vorsicht geboten

In Tabelle 2 sind neben den Wachstumsraten der 132 Städte in konstanten und variablen Grenzen des Gemeindegebiets auch die entsprechenden Rangzahlen dieser Wachstumsraten einander gegenübergestellt (Spalten 5 und 6). Diese fallen aufgrund des verzerrenden Einflusses von Änderungen des Gebietszuschnitts auf die Wachstumsraten der Einwohnerzahlen entsprechend unterschiedlich aus. Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, bei der Interpretation von Städterankings nicht nur die Relation einer Stadt zu den Grenzen ihrer (oder einer anderen) wie auch immer gearteten funktionalen Region, sondern auch die der Ermittlung dynamischer Kennziffern zugrundeliegenden Gebietszuschnitte zu berücksichtigen. Zum Städtevergleich im Hinblick auf ihre demographische oder wirtschaftliche Entwicklung müssen auch Kennzahlen herangezogen werden, die sich auf ein und dasselbe Gebiet beziehen.

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Aktuelle Trends: Mindestlohn von 8,50 Euro: Hohe Betroffenheit in arbeitsintensiven Branchen

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Knapp ein Viertel der Arbeitnehmer in Ostdeutschland hatte im Jahr 2013 einen Bruttostundenlohn von weniger als 8,50 Euro. Dies zeigen vom IWH erstmals für das Jahr 2013 durchgeführte Berechnungen auf Basis aktueller Befragungsergebnisse. Damit liegt der Anteil der unter diesem Stundensatz verdienenden Personen in etwa auf dem Vorjahreswert. Besonders hoch ist dabei der Anteil in den arbeitsintensiven Branchen.

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