Hohes öffentliches Defizit nicht nur wegen Corona – Mittelfristige Handlungsmöglichkeiten für den Staat

Nach der Mittelfristprojektion des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) wird das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland zwischen den Jahren 2020 und 2025 langsamer wachsen als zuvor, nicht nur aufgrund der Pandemie-Krise, sondern auch, weil die Erwerbsbevölkerung zurückgehen wird. Die im Fall unveränderter gesetzlicher Rahmenbedingungen resultierenden strukturellen öffentlichen Defizite dürften höher sein, als es die Schuldenbremse erlaubt. Die Konsolidierung würde, vor allem wenn sie durch Steuererhöhungen erfolgt, kurzfristig mit spürbaren wirtschaftlichen Einbußen einhergehen. „Es spricht viel dafür, die Schuldenbremse zwar nicht abzuschaffen, aber ein Stück weit zu lockern“, sagt Oliver Holtemöller, Leiter der Abteilung Makroökonomik und Vizepräsident des IWH.

Autoren Oliver Holtemöller

Nach der Mittelfristprojektion des IWH wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland in den Jahren bis 2025 preisbereinigt um durchschnittlich ½% wachsen, und damit um einen Prozentpunkt langsamer als im Zeitraum von 2013 bis 2019. Dies ist vor allem auf den starken Einbruch im Jahr 2020 zurückzuführen, aber auch darauf, dass die Erwerbsbevölkerung spürbar zurückgehen wird. Das nominale BIP wird wohl um durchschnittlich 2½% zunehmen. Im Jahr 2021 dürfte das gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit aufgrund der Pandemie 4,3% in Relation zum BIP ausmachen. In den Folgejahren führen die langsamer expandierenden Staatseinnahmen zusammen mit den schon vor der Corona-Pandemie angelegten Ausweitungen der Sozialausgaben zu strukturellen Defiziten im Staatshalt von etwa 2%. Wenn das strukturelle Defizit bis zum Jahr 2025 wieder auf den in den europäischen Fiskalregeln vorgegebenen Referenzwert von 0,5% in Relation zum BIP zurückgeführt werden soll, sind Konsolidierungsmaßnahmen erforderlich. Mit Hilfe des finanzpolitischen Simulationsmodells des IWH kann gezeigt werden, dass eine solche Konsolidierung kurzfristig mit spürbaren wirtschaftlichen Einbußen einhergeht. Eine ausgabenseitige Konsolidierung belastet die Wirtschaft weniger als eine einnahmenseitige, nicht zuletzt, weil negative Effekte von Steuer- und Abgabenerhöhungen auf das Arbeitsangebot vermieden werden.

Es sprechen verschiedene Argumente dafür, die Schuldenbremse zwar nicht abzuschaffen, aber ein Stück weit zu lockern. Denn auch zukünftige Generationen können von einer Ausweitung der öffentlichen Verschuldung profitieren. Zwar bringt dies Zins- und Tilgungsverpflichtungen für die Zukunft mit sich. Es ist aber zu bedenken, dass die begebenen Schuldtitel zu einem erheblichen Teil von Inländern gekauft werden dürften. Deshalb werden nicht nur die Träger der für den Schuldendienst erforderlichen Steuerlast, sondern auch viele Empfänger Inländer sein. Zwar kann die Neuverschuldung die Kapitalbildung behindern, etwa, wenn die staatliche Kreditaufnahme über einen Zinsanstieg Investitionen in privatwirtschaftliche Projekte verdrängt und selbst vor allem konsumtiv verwendet wird. Doch gegenwärtig sind die Kapitalmarktrenditen trotz massiv gestiegenen öffentlichen Finanzierungsbedarfs sehr niedrig geblieben. Auch dürfte es gegenwärtig eine Vielzahl von hoch rentierlichen öffentlichen Mehrausgaben geben, etwa in den Bereichen Bildung, Digitalisierung und Energiewende. Es sprechen allerdings politökonomische Argumente dafür, grundsätzlich den Spielraum für Staatsverschuldung mittels einer fiskalpolitischen Regel zu begrenzen. Deshalb sollte die Schuldenbremse nicht abgeschafft, sondern nur gelockert werden, etwa so weit, wie es der Europäische Fiskalpakt zulässt. Dieser erlaubt strukturelle Defizite in Höhe von 0,5% in Relation zum BIP.

Langfassung:
Andrej Drygalla, Katja Heinisch, Oliver Holtemöller, Axel Lindner, Matthias Wieschemeyer, Götz Zeddies: Hohes öffentliches Defizit nicht nur wegen Corona – Mittelfristige Handlungsmöglichkeiten für den Staat, in: IWH, Konjunktur aktuell, Jg. 8 (4), 2020. Halle (Saale) 2020, 150 ff.

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Hohes öffentliches Defizit nicht nur wegen Corona – Mittelfristige Handlungsmöglichkeiten für den Staat

Andrej Drygalla Oliver Holtemöller Axel Lindner Matthias Wieschemeyer Götz Zeddies Katja Heinisch

in: Konjunktur aktuell, 4, 2020

Abstract

Nach der Mittelfristprojektion des IWH wird das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland in den Jahren bis 2025 preisbereinigt um durchschnittlich ½% wachsen, und damit einen Prozentpunkt langsamer als im Zeitraum von 2013 bis 2019. Dies ist nicht nur auf den starken Einbruch im Jahr 2020 zurückzuführen, sondern auch darauf, dass die Erwerbsbevölkerung spürbar zurückgehen wird. Die Staatseinnahmen expandieren deutlich langsamer als in den vergangenen Jahren. Auch nach Überwindung der Pandemiekrise dürfte der Staatshaushalt im Fall unveränderter gesetzlicher Rahmenbedingungen ein strukturelles Defizit von etwa 2% relativ zum Bruttoinlandsprodukt aufweisen, und die Schuldenbremse würde weiter verletzt. Konsolidierungsmaßnahmen zur Rückführung dieser Defizitquote auf ½% würden die Produktion in Deutschland unter die Normalauslastung drücken. Mit Hilfe des finanzpolitischen Simulationsmodells des IWH kann gezeigt werden, dass dabei eine ausgabenseitige Konsolidierung die Produktion weniger belastet als eine einnahmenseitige. Es spricht, auch aus theoretischer Sicht, viel dafür, die Schuldenbremse zwar nicht abzuschaffen, aber ein Stück weit zu lockern.

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