Die garstige Lücke

Warum Ostdeutschland auch 30 Jahre nach der Vereinigung um 20% ärmer ist als der Westen

Dossier

 

Auf den Punkt

Der wirtschaftliche Aufholprozess Ostdeutschlands kommt kaum noch voran. Je nach Messkonzept stagniert die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Neuen Bundesländer zwischen 75% und 80% des westdeutschen Niveaus. Selbst beim Vergleich von Betrieben gleicher Größe und Branche bleibt die Produktivitätslücke bestehen.

Die fundamentale Ursache für das Stocken des Konvergenzprozesses liegt in der mangelnden Produktivität der ostdeutschen Unternehmen. Es gelang Ihnen nicht, aus eigener Kraft zu wachsen. Politische Entscheidungen zu Beginn der Transformation und der Brain Drain nach Westdeutschland wirken hier nach. Hinzu kommt die dauerhafte Subventionierung unproduktiver Strukturen und ein Mangel an Entrepreneurship, der sich aus dem Fehlen von Kapitalreserven und der Erfahrung des Systembruchs erklären lässt. Entscheidend für die Überwindung der Produktivitätslücke sind Investitionen in Bildung und Forschung, die digitale Infrastruktur und eine Kultur der Internationalität.

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Egal ob die Lücke über die Wirtschaftsleistung pro Kopf, das verfügbare Einkommen oder die Arbeitsproduktivität gemessen wird: Ostdeutschland ist noch immer um 20% bis 25% ärmer als Westdeutschland. Die regionalen Unterschiede sind im Osten dabei viel geringer als im Westen. Selbst die ärmsten westdeutschen Bundesländer sind jedoch pro Kopf immer noch wohlhabender als alle ostdeutschen (mit Ausnahme Berlins). Dennoch: Gemessen an der Ausgangslage im Osten Deutschlands zum Zeitpunkt der Deutschen Vereinigung stellt die Entwicklung eine gewaltige Verbesserung dar.

Nach der ökonomischen Konvergenztheorie hätte sich die Lücke spätestens nach zwanzig Jahren schließen müssen. Es gab keine politische Grenze und keine Handelsschranken mehr, Institutionen und Sprache waren in Ost- und Westdeutschland die gleichen. Kapital und Arbeit konnten sich frei bewegen. Die ostdeutschen Länder hätten aufgrund anfangs niedriger Löhne und Betriebskosten Investitionen anziehen müssen, Fachkräfte sich zu den gut bezahlten Jobs im Westen bewegen sollen, solange bis sich Löhne und Kapitalerträge in Ost- und Westdeutschland angeglichen hätten.

Das historische Handicap: Deindustrialisierung und Planwirtschaft

Historisch betrachtet waren viele der heute reichen Regionen in Süddeutschland deutlich ärmer als die urbanen Zentren Ostdeutschlands wie Sachsen und Berlin. Am Ende des Zweiten Weltkriegs fingen alle Regionen bei null an, jedoch war die ostdeutsche Industrie weniger zerstört, da sie teilweise außerhalb der Reichweite der alliierten Bomber lag. Dann folgte jedoch eine brutale Deindustrialisierung, in deren Verlauf große Teile von Industrie und Infrastruktur buchstäblich demontiert und in die Sowjetunion transportiert wurden. Zugleich wurde Ostdeutschland von den internationalen Handelsströmen abgeschnitten und seiner Hauptabsatzmärkte und Kapitalquellen im Westen Deutschlands beraubt.

So startete die DDR bereits zu Ihrer Gründung 1949 mit einer gegenüber der Bundesrepublik um ein Drittel geringeren Pro-Kopf-Produktivität. Dennoch gelang ein bemerkenswerter Wiederaufbau. Zu Beginn der 1970er-Jahre befand sich die DDR noch gleichauf mit den südeuropäischen EU-Ländern. In den 15 Jahren vor dem Mauerfall jedoch erfasste die Stagnation des sozialistischen Blocks auch die DDR. Die ökonomische Situation kurz vor dem Ende im Jahr 1989 war viel schlechter als von vielen, auch westlichen Studien eingeschätzt.

Zwei positive Ausnahmen gab es: Die DDR-Landwirtschaft war aufgrund ihrer Organisation in Kooperativen mit sehr großen Flächen pro Betrieb effizienter als die kleinteilige westdeutsche. Und das Bildungsniveau war dem westdeutschen ebenbürtig, in den technischen und Ingenieursberufen sogar etwas höher.

In der DDR-Ökonomie war die Zuweisung von Kapital, natürlichen Ressourcen und Arbeitskraft vier Jahrzehnte lang Ergebnis politischer Setzung statt der Logik des Marktes. Dabei musste die DDR außerdem die ihr im sozialistischen Wirtschaftsverbund zugewiesene Spezialisierung übernehmen. Im Ergebnis waren vor allem die urbanen Regionen unverhältnismäßig auf Schwerindustrie ausgerichtet, während sie in Westdeutschland an der Spitze des Wandels zur Servicegesellschaft standen.

Nach der Einheit: Anfangsschwung, dann Stagnation

In den ersten Jahren nach der Wende schien sich die Konvergenztheorie zu bewahrheiten: Die DDR-Wirtschaft holte rasch auf. Zehn Jahre nach dem Mauerfall war das Pro-Kopf-Einkommen von 35% des Westniveaus auf 65% hochgeschnellt. Wesentlich für diesen Erfolg war zum einen die erste Privatisierungswelle noch unter der ersten demokratischen DDR-Regierung, die vor allem kleine Unternehmen von den planwirtschaftlichen Fesseln befreite. Zum anderen wurde die marode Infrastruktur mit enormem staatlichen Mitteleinsatz auf einen wettbewerbsfähigen Stand gehoben.

Ende der 1990er Jahre kam dieser anfängliche Aufholschwung zum Erliegen. Seither wächst die ostdeutsche Wirtschaft meist sogar langsamer als die westdeutsche, und die Einkommensangleichung setzte sich über die nächsten zwanzig Jahre hinweg nur noch in kleinsten Schritten fort. Die fundamentale Ursache für diesen abrupten Stopp des Konvergenzprozesses liegt in der mangelnden Produktivität der ostdeutschen Unternehmen. Es gelang Ihnen nicht, aus eigener Kraft zu wachsen.

Die Aufwertung der Währung

Eine Ursache hierfür liegt in der Festlegung der 1:1-Austauschrate zwischen DDR-Mark und D-Mark. Politisch gab es zu dieser Entscheidung wohl keine Alternative, da ansonsten hohe Inflationsraten und ein Massenexodus der ostdeutschen Bevölkerung in den Westen des Landes wahrscheinlich gewesen wären. Ökonomisch war sie gleichbedeutend mit einer Aufwertung der Währung um das Vierfache. Viele ostdeutsche Produkte und Dienstleistungen verloren ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit. Haushalte und Unternehmen ächzten unter der plötzlich vervielfachten Last ihrer Schulden in ostdeutscher Währung.

Der Brain Drain

Trotz der 1:1-Umstellung ihrer Gehälter und Ersparnisse blieben die Anreize gerade für die vielen gut ausgebildeten Ingenieure und Techniker der DDR hoch, nach Westdeutschland abzuwandern. Sie konnten dort oft das Dreifache verdienen. Zwischen 1989 und 2013 emigrierten netto 1,9 Millionen zumeist gut ausgebildeter Menschen. Zum Vergleich: In der DDR lebten insgesamt etwa neun Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter. Zwar verhinderte diese Abwanderung, dass die Arbeitslosigkeit im Osten Deutschlands noch höher schnellte. Andererseits wurde der ostdeutsche Arbeitsmarkt entwertet: Zurück blieben vor allem die weniger gut ausgebildeten und älteren Menschen. Darin liegt die zweite Ursache für den anhaltenden Produktivitätsrückstand Ostdeutschlands

Die westdeutsche Wirtschaft, die Anfang der 2000er-Jahre als „kranker Mann Europas“ darniederlag, profitierte dagegen enorm von der Zuwanderung aus den ostdeutschen Ländern. Sie verjüngte die arbeitsfähige Bevölkerung und verbesserte ihren Ausbildungsstand. Dies trug erheblich zur Erholung der deutschen Wirtschaft im folgenden Jahrzehnt bei. Der fiskalische Mittelabfluss zur Stützung und zum Wiederaufbau der ostdeutschen Wirtschaft und Infrastruktur in den 1990er-Jahren wurde dadurch mehr als kompensiert. Der Osten leidet bis heute unter diesem Brain Drain, dessen Folgen sich in die nächsten Generationen fortpflanzen: Heute ist der Anteil der gut ausgebildeten Menschen in Ostdeutschland deutlich geringer als im Westen, die Schulabbrecherquote dagegen liegt überdurchschnittlich hoch.

Die Treuhand-Privatisierung

Die dritte Ursache für die zu geringe und nicht selbsttragende Produktivität der ostdeutschen Unternehmen liegt in der zweiten Welle der Privatisierung begründet, die vor allem die großen Industriekonglomerate betraf. Die gewaltige Aufgabe, die 8 500 (nach Zerschlagung der größten Konglomerate sogar 12 000) staatlichen Industriebetriebe mit vier Millionen Beschäftigten zu übernehmen und private Eigner für sie zu finden, wurde der noch von der Modrow-Regierung gegründeten Treuhandanstalt übertragen. Bei ihrer Auflösung im Jahr 1995 hatte die Treuhandanstalt den Großteil der Betriebe verkauft; 3 700 Betriebe mussten jedoch geschlossen werden. Die Treuhand-Privatisierung war mit enormen Beschäftigungsverlusten und den damit einhergehenden sozialen Problemen verbunden. Über fünfzehn Jahre bestand anhaltend eine sehr hohe Arbeitslosenquote in Ostdeutschland, die erst ab 2005 wieder zurückging (seitdem aber stabil sinkt).

Hätte es einen anderen, mit weniger harschen Nebenwirkungen einhergehenden Weg der Privatisierung gegeben? Schon zu Beginn des Prozesses standen sich zwei Denkschulen gegenüber. Die eine hätte gerne vorsichtiger und schrittweise privatisiert und die Unternehmen zunächst unter staatlicher Obhut restrukturiert und fit für den Markt gemacht. Die andere, liberale Schule plädierte für sofortige Privatisierung, um die Entscheidung über Neuausrichtung oder Schließung ineffizienter Kapazitäten dem Markt zu überlassen. In der Praxis hat sich die zweite Position durchgesetzt. Im Rückblick ist jedoch unbestreitbar, dass der Ansatz der schnellen Privatisierung von Ausnahmen wie Carl Zeiss und Jenoptik abgesehen oft nicht gut funktioniert hat. Hohe Arbeitslosigkeit in den Neunziger Jahren und das Wegbrechen produktiver Kapazität im Osten waren vor allem im Hinblick auf die sozialen Verwerfungen möglicherweise ein zu hoher Preis. Die Frage, ob eine graduelle Privatisierung bessere Ergebnisse erzielt hätte, ist Gegenstand der wissenschaftlichen Auswertung der erst jüngst veröffentlichten Treuhand-Akten.

Arbeitsmarktlücke geschlossen – Produktivitätslücke besteht fort

Beginnend mit der wirtschaftlichen Erholung nach der Rezession zur Jahrtausendwende hat sich die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland stetig verringert, von 18% auf aktuell etwa 6%. Westmigration, Infrastrukturmodernisierung und der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft haben wesentlich dazu beigetragen. Heute hat angesichts der rasch alternden Bevölkerung der Fachkräftemangel die Arbeitslosigkeit als zentrale Herausforderung des Arbeitsmarkts in den ostdeutschen Ländern abgelöst.

Während sich die Ost-West-Lücke am Arbeitsmarkt weitgehend geschlossen hat, besteht die Produktivitätslücke fort. Ostdeutsche Betriebe erzeugen mit dem gleichen Input weniger Output als westdeutsche – selbst dann, wenn man Ost-West-Unterschiede in der Größen- und Branchenstruktur berücksichtigt, also ostdeutsche Betriebe nur mit solchen westdeutschen Betrieben vergleicht, die gleich groß und in der gleichen Branche tätig sind. Woran liegt das? Drei Faktoren, die am Beginn des Transformationsprozesses standen und bis heute nachwirken, wurden bereits beschrieben: Aufwertungsschock, Brain Drain und Treuhand-Privatisierung. Ein weiterer Grund ist die fortwährende staatliche Subventionierung unproduktiver Unternehmen.

Subventionen halten unproduktive Betriebe am Leben

Exemplarisch für die Praxis dieser Subventionierung steht der Fall der Buna-Werke. Der VEB Chemische Werke Buna produzierte chemische Erzeugnisse aus Braunkohle und gehörte mit 30 000 Konzernbeschäftigten zu den größten Industriekombinaten der DDR. Das Werk produzierte mit obsoleten technischen Anlagen und unter immenser Umweltverschmutzung. Die Treuhandanstalt fand lange keinen privaten Käufer. Die gut ausgebildeten Arbeitskräfte wanderten größtenteils ab. Erst nach dem Jahr 2000 konnte das inzwischen auf 3 000 Beschäftigte geschrumpfte Unternehmen an den US-Konzern Dow Chemical veräußert werden, wobei drei Mrd. Euro staatlicher Subventionen an den Käufer flossen. Rechnerisch kostete der Erhalt eines Arbeitsplatzes den Staat also eine Mio. Euro.

Insgesamt subventionierte der Staat den Erhalt der industriellen Basis Ostdeutschlands in den vergangenen drei Jahrzehnten mit etwa 50 Mrd. Euro und hielt so künstlich ineffiziente, nicht mehr wettbewerbsfähige Strukturen am Leben. Dies geschah zweifelsohne unter dem Eindruck der drohenden sozialen Folgen großer Betriebsschließungen, aber auch, weil viele Entscheider das Bild des von der Industrie getragenen westdeutschen Wirtschaftswunders im Kopf hatten, das sie in Ostdeutschland kopieren wollten. Dabei verkannten sie, dass sich moderne Volkswirtschaften längst auf dem Weg in die Dienstleistungsökonomie befanden. So gingen in Westdeutschland in den 1990er Jahren zahlenmäßig weit mehr Industriejobs verloren als im Osten des Landes.

Heute gibt es angesichts des Fachkräftemangels keine sozialpolitische Rechtfertigung mehr für staatliche Hilfen an unproduktive Unternehmen. Wenn die gut qualifizierten Beschäftigten künftig zu den besten Firmen wandern, wird sich die Ost-West-Produktivitätslücke verringern.

Der alternde Kapitalismus – keine Einhörner in Sicht

Schließlich gibt es noch einen anderen Grund für den Produktivitätsrückstand des Ostens: den „alternden“ deutschen Kapitalismus. Nur 2% der 500 größten deutschen Unternehmen (nach Kapitalisierung) wurden vor 1990 gegründet, in den USA sind es 20%. Es fehlen junge, schnellwachsende Unternehmen, die die alteingesessenen herausfordern, vor allem so genannte Einhörner, also Startups mit einer Kapitalisierung von über einer Mrd. Euro.

Deutschland ist es bisher dennoch gelungen, innerhalb seiner traditionellen Schwerpunkte Automobilbau, Chemie und Maschinenbau überdurchschnittlich innovativ zu bleiben. Die Unternehmenszentralen, in denen die größte Wertschöpfung erzielt wird, liegen jedoch fast ausschließlich im Westen des Landes. Dieser Teil der Produktivitätslücke lässt sich nur schließen, indem in Ostdeutschland Firmen neu gegründet werden und in entsprechende Größen wachsen. Die Voraussetzungen hierfür sind in Deutschland generell und für ostdeutsche Gründungen speziell jedoch eher ungünstig. Die bemerkenswerte Startup-Szene in Berlin ist noch zu jung und zu klein, um daran etwas grundlegend zu ändern.

Bildung und digitale Infrastruktur

Künftig sollten staatliche Mittel vor allem in das ostdeutsche Bildungs- und Ausbildungssystem fließen. Wer in der Region sehr gute Qualifizierungsmöglichkeiten hat, muss nicht abwandern. Gute Kitas, Schulen und Hochschulen sind attraktiv für Hochqualifizierte und Fachkräfte aus dem Ausland und deren Familien. Hochschulabsolventen sind potenzielle Firmengründer, und sie gründen oft in der Nähe ihrer Heimatuniversität. Aber auch die Basisausbildung muss gestärkt und die im Vergleich zum Westen hohe Zahl an Schulabbrechern reduziert werden.

Um eine High-Tech-Wirtschaft zu ermöglichen, sollten Infrastrukturinvestitionen künftig vor allem in den Ausbau schneller digitaler Netze fließen.

Zuwanderung und Willkommenskultur

Die ostdeutsche Bevölkerung altert schneller als die westdeutsche. Zwar gibt es einige schnellwachsende Städte mit junger Bevölkerung wie Leipzig, Dresden und Berlin, in vielen ostdeutschen Kleinstädten und im ländlichen Raum trifft man dagegen kaum auf Menschen unter 50 Jahren. Es gibt jedoch auch positive Signale: Seit einem Jahrzehnt ist die Abwanderung in den Westen gestoppt, auch die nach der Wende eingebrochene Geburtenrate hat wieder das westdeutsche Niveau erreicht.

Was fehlt, ist eine stabile Nettozuwanderung aus dem Ausland. Nach der Finanz- und Eurokrise 2008/2009 wanderten zwar viele gut qualifizierte Menschen vor allem aus Südeuropa nach Deutschland ein; ihr Ziel war jedoch fast immer Westdeutschland, wo sie auf bestehende Netzwerke von Landsleuten bauen konnten. Die in Ostdeutschland im Vergleich zum Westen stärker manifesten Ressentiments gegenüber Zuwanderern stellen schon jetzt ein massives wirtschaftliches Problem dar. Gut qualifizierte Menschen, die auch anderswo begehrt sind, empfinden bereits die medial vermittelte politische Rhetorik populistischer Parteien und Gruppierungen als feindselig und nehmen Ostdeutschland nicht als eine neue Heimat wahr, in der sie willkommen sind.

Risikovermeidung als Hypothek der Transformation

Marktwirtschaft bedeutet Risiko. Möglicherweise liegt die fundamentale Ursache für die persistente ökonomische Ost-West-Lücke in einer im Osten Deutschlands stärker ausgeprägten Scheu, Risiken einzugehen. Diese Haltung wird aus der Erfahrung der Transformation verständlich: Wer wie die Ostdeutschen erlebt hat, wie von einem Tag auf den anderen das vertraute System an materiellen und sozialen Werten, Gewissheiten und Beziehungen vollständig kollabiert und durch ein anderes ersetzt wird, in dem man ganz von vorn anfangen muss, neigt oft dazu, künftig vorsichtiger zu handeln und Risiken zu vermeiden. Nur wenige Menschen konnten diesen epochalen Bruch persönlich in positive Energie wandeln und die darin liegende Chance sehen, sich selbst neu zu erfinden.

Hinzu kommt, dass die Menschen in Ostdeutschland im Unterschied zu den Westdeutschen nicht die Möglichkeit hatten, über Jahrzehnte prosperierender Wirtschaft und über mehrere Generationen hinweg Kapital in Form von monetären Werten, Immobilien und sozialen Netzwerken anzusammeln. Eine solche Reserve für unvorhergesehene Fälle gibt Sicherheit und erleichtert es, für vielversprechende Perspektiven ins Risiko zu gehen.

Unverhältnismäßige Risikoscheu, Misstrauen gegenüber Innovationen und der Zukunft im Allgemeinen sind starke Grundströmungen, die auch an die nächste Generation weitergegeben werden, die die DDR-Zeit nicht mehr selbst erlebt hat. Entrepreneurship ist im Osten selbst bei den nach 1980 Geborenen deutlich seltener zu beobachten. Die Komfortzone wird der Innovation und der Möglichkeit persönlichen Wachstums vorgezogen.

Vielleicht ist dies das schwerste Erbe der Mauer.

Infografiken

Publikationen zum Thema "Ostdeutschland"

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Aktuelle Trends: Ostdeutschland macht im Jahr 2019 im Ost-West-Vergleich in puncto Produktivität einen weiteren Schritt nach vorn

Gerhard Heimpold Mirko Titze

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 2, 2020

Abstract

Ostdeutschland konnte laut Daten des Arbeitskreises „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder“, die Ende März 2020 veröffentlicht wurden, im Jahr 2019 in puncto Produktivität im Vergleich zu Westdeutschland einen weiteren Schritt nach vorn gehen.

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"Evaluation der Gemeinschaftsaufgabe 'Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur' (GRW)" durch einzelbetriebliche Erfolgskontrolle

Matthias Brachert Hans-Ulrich Brautzsch Eva Dettmann Alexander Giebler Lutz Schneider Mirko Titze

in: IWH Online, Nr. 5, 2020

Abstract

Die „Gemeinschaftaufgabe ‚Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur‘ (GRW)“ repräsentiert das wichtigste Instrument der Regionalpolitik in Deutschland. Das Förderprogramm gewährt nicht-rückzahlbare Zuschüsse als Anteilsfinanzierung für Investitionsprojekte von Betriebsstätten (und Kommunen) im GRW-Fördergebiet. Die Festlegung des Fördergebiets erfolgt anhand eines aus verschiedenen Teilindikatoren zusammengesetzten Strukturschwächeindikators und eines von der Europäischen Union festgelegten Anteils der in Fördergebieten lebenden Bevölkerung. Verantwortlich für die Auswahl der geförderten Projekte ist das jeweilige Land, in dem das GRW-Projekt beantragt wird.

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Ostdeutschland - Eine Bilanz

IWH

in: Einzelveröffentlichungen, Festschrift für Gerhard Heimpold, IWH 2020

Abstract

Anlass dieser Festschrift ist die Verabschiedung von Dr. Gerhard Heimpold, dem stellvertretenden Leiter der Abteilung Strukturwandel und Produktivität am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), aus dem aktiven Berufsleben in den wohlverdienten Ruhestand. Gerhard Heimpold forschte am IWH zu Aspekten der Regionalentwicklung Ostdeutschlands unter Beachtung des politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozesses. Er gehört heute zu den wenigen Experten in Deutschland, die umfassende ökonomische Kenntnis über den gesamten Verlauf des Transformationsprozesses der ostdeutschen Wirtschaft seit Mitte der 1980er Jahre vorweisen können. Gerhard Heimpold hat im Laufe seiner akademischen Ausbildung und seiner ersten wissenschaftlichen Tätigkeit tiefe Einblicke in die Ausgestaltung und Funktionsweise der sozialistischen Planwirtschaft der DDR erhalten und konnte dieses Wissen nach dem Mauerfall 1989 in wichtige wissenschaftliche Beiträge auf dem Gebiet der internationalen Transformationsforschung einbringen.

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Mikrofundierte makroökonomische Resultate der ostdeutschen Transformationswirtschaft

Udo Ludwig

in: Beitrag in IWH-Sammelwerk, Festschrift für Gerhard Heimpold, IWH 2020

Abstract

Mit zunehmend zeitlichem Abstand seit der Wiederentstehung eines vereinten Deutschlands schwindet im Alltag das Wissen und in Forschung und Lehre das Verständnis der bewegenden Kräfte um dieses historisch einmalige und bis in die Gegenwart nachwirkende Ereignis. Die Zeitzeugen und die Mitgestalter der damit verbundenen Transformation einer Zentralplanwirtschaft verlassen altersbedingt die Bühne, und die nachrückenden Generationen wenden sich anderen Herausforderungen zu. Denn heute stehen erneut, aber ganz anders geartete Transformationsprozesse auf der Tagesordnung: Gefragt sind Antworten auf den Klimawandel, den Ausstieg aus der Energiegewinnung durch fossile Brennstoffe, die Digitalisierung der Produktions- und Verbrauchsprozesse, die Verkehrswende und anderes. Schnell wird dann die Transformation einer ganzen Wirtschaftsordnung von der Agenda verdrängt, und die systemischen Zusammenhänge sowie das Verständnis der längerfristigen Folgen dieses historischen Wendepunktes für Deutschland treten in den Hintergrund und geben den Platz frei für oberflächliche Vereinfachungen. Der Systemwechsel verschwindet im sprachlichen Alltag hinter Schlagworten wie “Wende” und Ost-West-Vergleiche, in denen historische Bruchstellen geglättet bzw. sozioökonomische Inhalte durch die Projektion auf Himmelsrichtungen ersetzt werden. Selbstverständlichkeiten aus der Zeit des Umbruchs gehen unter oder werden durch Halbwahrheiten verzerrt wiedergegeben.

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Die Entfaltung einer Marktwirtschaft – Die ostdeutsche Wirtschaft fünf Jahre nach der Währungsunion

Rüdiger Pohl

in: Beitrag in IWH-Sammelwerk, Festschrift für Gerhard Heimpold, IWH 2020

Abstract

Die Öffnung der Mauer am 9. November 1989, die Einführung der Deutschen Mark (DM) in der DDR zum 1. Juli 1990, die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990: Diese drei Daten markieren vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des Sozialismus in Osteuropa eine historische Umwälzung, die nicht nur die politischen Verhältnisse in Deutschland grundlegend verändert hat, sondern auch eine neue deutsche Volkswirtschaft hervorbringen sollte. Das marktwirtschaftliche System, in dessen Ordnungsrahmen der Westen des Landes zu Wohlstand gekommen ist, würde nun – so waren die Erwartungen – auch im Osten des Landes eine dynamische Wirtschaftsentwicklung einleiten und die Mangel des sozialistischen Systems der DDR vergessen machen. Die Erwartungen waren hoch, ja euphorisch. Durch die Aufhebung aller Einfuhrbeschränkungen und die Ausstattung der DDR-Bürger mit konvertibler DM wurden lange aufgestaute Konsumwünsche rasch erfüllbar. Weil nicht mehr wie zuvor chronische Materialengpässe immer wieder Produktionsstillstand verursachen würden, konnte ein sprunghafter Effizienzzuwachs in der Produktion erwartet werden. Das Unternehmertum, in der DDR systematisch eingeengt und bis zur volkswirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit reduziert, würde sich entfalten und für Arbeitsplätze und steigende Einkommen sorgen. Angesichts des Nachholbedarfs an Modernisierung im Maschinenpark und in der Infrastruktur versprachen Investitionen im Osten eine hohe Rentabilität; das musste einen reichlichen Zustrom auswärtigen Kapitals auslösen. Zwar würde der Übergang vom Sozialismus zur Marktwirtschaft auch Lasten verursachen, aber nach verbreiteter Auffassung war nur eine „Anschubfinanzierung“ als finanzielle Unterstützung für den Osten durch den Westen nötig. Skeptische Stimmen, die in Ostdeutschland keine signifikanten Standortvorteile entdecken konnten und deswegen einen schmerzhaften Transformationsprozess erwarteten, gab es auch, doch wollte ihnen kaum jemand Gehör schenken. Zu sehr waren die Hoffnungen auf wirtschaftlichen Wohlstand ausgerichtet; die Befreiung von jahrzehntelanger staatlicher Bevormundung und Einschränkung stärkte die Einschätzung, dass das Erhoffte mit entsprechender Anstrengung auch erreichbar ist. Der „Aufholprozess“ – der Abbau des Einkommensrückstandes gegenüber Westdeutschland – schien nur eine Angelegenheit von wenigen Jahren zu sein.

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