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Zwischenbetriebliche Lohnunterschiede, Mitbestimmung und Tarifverträge

Niedriglohnsektor und steigende Lohnungleichheit sind seit langem dominierende Themen am Arbeitsmarkt. Dieser Artikel legt nahe, dass die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer von der Existenz von Betriebsräten und Tarifverträgen abhängt und dass sich vor allem betriebliche Mitbestimmung positiv auf Löhne auswirkt. Während Mitbestimmung die zwischenbetriebliche Lohnungleichheit erhöht, wird sie durch Tarifverträge reduziert.

23. Juli 2020

Autoren Steffen Müller

Betriebliche Lohnunterschiede steigen

Wie hoch der Lohn eines Arbeitnehmers ist, hängt von persönlichen Merkmalen wie seiner Qualifikation oder seinem Alter ab, aber auch von Besonderheiten des Unternehmens, in dem er beschäftigt ist, etwa von dessen Größe oder Branche. Eine statistische Zerlegung des Lohns in beschäftigtenspezifische und arbeitgeberspezifische Komponenten zeigt je nach untersuchter Volkswirtschaft, dass die arbeitgeberspezifischen Lohnkomponenten etwa 15% bis 20% der gesamten Lohnungleichheit erklären können. In (West-)Deutschland stieg der Beitrag der zwischenbetrieblichen Lohn- ungleichheit zur Gesamtvarianz der Löhne von 18,5% in den späten 1980er Jahren auf 21% im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts. Dieser Anstieg in der Bedeutung der betrieblichen Lohnungleichheit trug etwa 25% zum Anstieg der gesamten Lohnungleichheit in Deutschland bei.1

Betriebliche Lohndifferenziale zeigen an, dass ähnlich qualifizierte Beschäftigte bei unterschiedlichen Arbeitgebern sehr unterschiedlich verdienen können. Solche betrieblichen Lohndifferenziale sind schwer mit der Idee eines vollständig wettbewerblich organisierten Arbeits- und Produktmarkts vereinbar, nach der sich im Gleichgewicht einheitliche Marktlöhne und unternehmerische Profite nahe null einstellen.2 Sie deuten vielmehr auf erhebliche betriebliche Überschüsse hin, die je nach ihrer relativen Verhandlungsmacht zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern aufgeteilt werden. Dieser Beitrag untersucht, welchen Einfluss Arbeitnehmerorganisationen auf die Aufteilung betrieblicher Überschüsse und deren Entwicklung über die Zeit haben.3 Zudem wird analysiert, ob der vielfach dokumentierte Lohnaufschlag für Tarifbeschäftigte (union wage premium) und Beschäftigte in mitbestimmten Betrieben tatsächlich existiert oder nur eine Folge überdurchschnittlich hoher Beschäftigtenproduktivität in diesen Betrieben ist.

Tarifverträge und Betriebsräte in Deutschland

Die in der Verfassung verankerte Tarifautonomie gibt Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden das Vorrecht, über Mindeststandards bei Löhnen und anderen Arbeitsbedingungen ohne staatlichen Eingriff zu verhandeln. Getroffene Vereinbarungen sind rechtlich bindend und betreffen im Normalfall alle im jeweiligen Arbeitgeberverband organisierten Unternehmen mit all ihren Mitarbeitenden unabhängig davon, ob diese Gewerkschaftsmitglied sind oder nicht. Öffnungsklauseln ermöglichen Arbeitgebern in der Regel, bei ökonomischen Härtefällen von tarifvertraglich vereinbarten Standards nach unten abzuweichen. Derzeit erhalten deutlich mehr als die Hälfte der westdeutschen Beschäftigten Tariflöhne, und etwa die Hälfte der verbleibenden Beschäftigten arbeitet in Betrieben, die sich am Tarifvertrag orientieren. Mitte der 1990er Jahre waren jedoch noch sehr viel mehr Beschäftigte tariflich beschäftigt. Internationale Studien zeigen, dass gewerkschaftliche Löhne vor allem am unteren Ende der Lohnverteilung die Löhne erhöhen.

Neben Tarifverträgen stellen Betriebsräte die zweite Säule der industriellen Beziehungen in Deutschland dar. Betriebsräte sind auf Betriebsebene agierende und von der Belegschaft gewählte Beschäftigte. Das Betriebsverfassungsgesetz räumt dem Betriebsrat weitreichende Informations-, Konsultations- und Mitbestimmungsrechte bei betrieblichen Entscheidungen ein, die weit über die Rechte vergleichbarer Institutionen in anderen Ländern hinausgehen. Die ökonomische Literatur findet höhere Produktivität, höhere Löhne und höhere Gewinne in Betrieben mit Betriebsrat.4 Das Betriebsverfassungsgesetz gibt Betriebsräten kein Mandat für Lohnverhandlungen und kein Streikrecht. Zur Erklärung höherer Löhne in mitbestimmten Betrieben wird oft davon ausgegangen, dass Arbeitgeber zu Lohnkonzessionen bereit sind, um die Zustimmung der Betriebsräte bei nicht direkt den Lohn betreffenden Entscheidungen zu erhalten.

Betriebsräte erhöhen die Löhne

Die nachfolgenden Ergebnisse basieren auf multivariaten Schätzungen, die Unterschiede in der Betriebslohnkomponente westdeutscher Betriebe durch die Existenz von Tarifverträgen und Betriebsräten erklären sollen. Dabei werden unter anderem betriebliche Unterschiede in der Branchenzugehörigkeit, der Betriebsgröße und dem Standort (Regierungsbezirksebene) herausgerechnet. Zudem wird die Quasirente, ein Maß für die Höhe der zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu verteilenden betrieblichen Überschüsse, berücksichtigt. Eine wesentliche Neuerung besteht darin, dass die Betrachtung betrieblicher Lohnkomponenten5 anstatt des gesamten Lohns sicherstellt, dass in den Eigenschaften der Beschäftigten liegende Unterschiede in der Entlohnung nicht in das Ergebnis einfließen. Dies ist wichtig, weil bisherige Studien zu den Lohneffekten von Tarifverträgen und Betriebsräten den Effekt dieser Institutionen nicht vom Einfluss unbeobachtbarer Unterschiede in den jeweiligen Belegschaften trennen konnten. Wenn sich beispielsweise Beschäftigte in mitbestimmte Betriebe (oder Tarifbetriebe) sortieren, die auch ohne diese Institutionen mehr verdienen würden als andere Beschäftigte, ist der in früheren Studien gemessene Lohneffekt überschätzt.6

Die Regressionsergebnisse zeigen, dass im Zeitraum von 1994 bis 2009 die Betriebslohnkomponente in mitbestimmten Betrieben um etwa 5% höher liegt als in Betrieben ohne Betriebsrat. Das bedeutet, dass der durchschnittliche Beschäftigte, der von einem nicht mitbestimmten in einen vergleichbaren mitbestimmten Betrieb wechselt, mit einem Lohnzuwachs von 5% rechnen kann. Tarifgebundene Betriebe haben hingegen nur eine um 2% höhere Betriebslohnkomponente. Interessant ist auch, dass die Quasirente nur in einem sehr schwachen positiven Zusammenhang mit der Betriebslohnkomponente steht: eine Erhöhung (Senkung) der verteilbaren Überschüsse um 10% geht mit einer Erhöhung (Senkung) der Betriebslohnkomponente von lediglich 0,14% einher. Eine Lesart ist, dass deutsche Unternehmen ihre Beschäftigten stark gegen unternehmerische Risiken versichern. Der schwache Zusammenhang bedeutet auch, dass Trends oder zunehmende Ungleichheit in der Quasirente nur in sehr begrenztem Maß Trends und steigende Ungleichheit in der Firmenlohnkomponente erklären können.

Rückgang der Tarifvertragsbindung erhöht Ungleichheit

Für eine Analyse der Ungleichheit ist es wichtig, nicht nur die Effekte auf den Mittelwert zu kennen. Mit Hilfe unbedingter Quantilsregressionen lässt sich der partielle Effekt der Institutionen auf verschiedene Aspekte der unbedingten Verteilung der Lohnprämie, z. B. deren unbedingte Varianz, berechnen.7 Hier zeigt sich, dass Betriebsräte vor allem, aber nicht nur dort wirken, wo die Betriebslohnkomponente bereits hoch ist. Somit erhöhen sie die betriebliche Lohnungleichheit. Im Gegensatz dazu verringern Tarifverträge die Ungleichheit, da sie vor allem am unteren Ende Verteilung die Prämien erhöhen. Schlussendlich zeigt sich im Rahmen einer statistischen Zerlegung der Veränderung der Ungleichheit der Lohnprämie über die Zeit, dass der Rückgang der Tarifvertragsbindung etwa ein Siebtel des Anstiegs der Varianz der Lohnprämie erklären kann.

Schlussfolgerungen

Ein wachsender Niedriglohnsektor und steigende Lohnungleichheit haben in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten den Arbeitsmarkt geprägt. Diese Studie legt nahe, dass die (betriebsspezifische) Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer von ihrem Organisationsgrad abhängt, dass sie sich positiv auf Löhne auswirkt und dass ihr Ursprung, also Mitbestimmung oder Tarifvertrag, darüber entscheidet, ob die zwischenbetriebliche Lohnungleichheit steigt oder sinkt. Gesellschaften, die sich eine generelle Erhöhung der Löhne zum Ziel setzen, können das eher durch eine Stärkung betrieblicher Mitbestimmung als durch eine Stärkung der Tarifbindung erreichen. Wenn das Ziel jedoch die Reduktion der zwischenbetrieblichen Lohnungleichheit ist, wird dies durch eine Stärkung der Tarifbindung besser erreicht. Höhere Löhne am unteren Ende der Lohnverteilung lassen sich sowohl bei Vorhandensein von Tarifverträgen als auch bei betrieblicher Mitbestimmung beobachten. 

Endnoten

1 Vgl. Card, D.; Heining, J.; Kline, P.: Workplace Heterogeneity and the Rise of West German Wage Inequality, in: Quarterly Journal of Economics, Vol. 128 (3), 2013, 967–1015.

2 Unter Profit wird hierbei ein betrieblicher Überschuss verstanden, der nach wettbewerblicher Verzinsung des eingesetzten Kapitals und angemessener Entlohnung für die unternehmerische Arbeitsleistung verbleibt.

3 Dieser Beitrag basiert auf Hirsch, B.; Müller, S.: Firm Wage Premia, Industrial Relations, and Rent Sharing in Germany, in: ILR Review, im Erscheinen (vgl. auch IWH-Diskussionspapier 2/2018).

4 Eine aktuelle Übersicht über diese Literatur findet sich in Müller, S.; Stegmaier, J.: Why is there Resistance to Works Councils in Germany? An Economic Perspective, in: Economic and Industrial Democracy (im Erscheinen). Siehe auch Müller, S.: Warum gibt es Widerstand gegen Betriebsräte, in: IWH, Wirtschaft im Wandel, Jg. 24 (2), 2018, 23–25.

5 Die betriebliche Lohnkomponente wird mit Two-Way-Fixed-Effects- Schätzungen auf Basis logarithmierter Löhne in Westdeutschland anhand der Vorgehensweise in Card, D.; Heining, J.; Kline, P., a. a. O. ermittelt.

6 Die in diesem Artikel gezeigten Ergebnisse sind dennoch nicht notwendigerweise als kausale Effekte interpretierbar.

7 Vgl. Firpo, S.; Fortin, N.; Lemieux, T.: Unconditional Quantile Regressions, in: Econometrica, Vol. 77 (3), 2009, 953–973.

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