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Insolvenzen in der Corona-Krise

Die Insolvenzzahlen sind trotz Corona-Krise im Jahr 2020 stark gesunken. Diese paradoxe Situation kann in erster Linie durch staatliche Unterstützungsmaßnahmen und abwartendes Verhalten bei den Unternehmen erklärt werden. Die Krise traf die meisten Unternehmen am Ende einer langanhaltenden wirtschaftlichen Boomphase und somit haben viele Unternehmen umfangreiche Reserven aufgebaut, die sie in Erwartung eines Nach-Corona Booms aufbrauchen. Obwohl eine Insolvenzwelle ab Frühjahr nicht auszuschließen ist, ist sie doch eher unwahrscheinlich. Der Staat muss seine Kräfte bündeln um ein Wiederaufflammen der Pandemie nach dem Sommer 2021 zu verhindern und gleichzeitig die Stützungsmaßnahmen bereits im Jahr 2021 beenden, um eine „Zombifizierung“ der Wirtschaft zu unterbinden.

04. Februar 2021

Autoren Steffen Müller

Inhalt
Seite 1
Warum interessieren uns Insolvenzen?
Seite 2
Das Insolvenzgeschehen 2020
Seite 3
Welche Insolvenzentwicklung ist für 2021 zu erwarten?
Seite 4
Endnoten Auf einer Seite lesen

Mit großem Interesse schaut die Öffentlichkeit im Laufe der Corona-Krise auf die aktuellen Insolvenzzahlen. Dieser Beitrag erklärt, warum und für welche Phänomene Insolvenzen ein wichtiger ökonomischer Indikator sind. Er zeigt, wie Insolvenzen gemessen werden und wie möglichst aktuelle Insolvenzzahlen erzeugt werden können. Auf dieser Grundlage wird das Insolvenzgeschehen des Jahres 2020 analysiert und die wahrscheinliche Entwicklung der nächsten Monate skizziert.

Warum interessieren uns Insolvenzen?

Insolvenzen dienen als Gradmesser für das Ausmaß der Coronakrise, für Jobverluste und mögliche öko­nomische Ansteckungsgefahren von Unternehmen zu Unternehmen. Auch wenn eine Insolvenz nicht notwendigerweise in die Schließung eines Unternehmens mündet, so ist die diese in der Tat das bei Weitem häufigste Ergebnis einer Insolvenz.1 Insolvenzen sind allerdings nur eine von vielen Varianten, wie Unternehmen vom Markt verschwinden. Viele Unternehmen schließen einfach ohne Insolvenz, an­dere werden aufgekauft oder fusionieren. Tatsächlich schließen sehr viel mehr Unternehmen ohne In­solvenz, als Unternehmen eine Insolvenz anmelden. Müller und Stegmaier (2015) zeigen zum Beispiel, dass jährlich etwa 9% aller Betriebe, die höchstens zwei Jahre alt sind, ohne Insolvenz aus dem Markt austreten, während dies nur 2% über den Weg der Insolvenz tun.

Was ist also das Besondere an Insolvenzen? Der Hauptunterschied zwischen den Marktaustrittsformen besteht darin, dass ein Marktaustritt ohne Insolvenz nicht immer ein Scheitern des Unternehmens als Ur­sache hat und oft freiwillig geschieht. Eine fehlende Unternehmensnachfolge oder schlicht bessere Ver­dienstmöglichkeiten als Angestellter einer anderen Firma sind mögliche Gründe.2 Viele Unternehmer bezeichnen ihr Unternehmen nach einer solchen Schließung sogar als Erfolg.https://www.iwh-halle.de/publikationen/detail/insolvenzen-in-der-corona-krise/4/3 Der Marktaustritt über den Weg der Insolvenz ist hingegen ein starkes Zeichen für ökonomisches Scheitern. Dies zeigt sich auch deut­lich daran, dass Austritten ohne Insolvenz oft eine mehrjährige geordnete Schrumpfungsphase vorweg­geht, während insolvente Unternehmen sich bis zum Schluss gegen den Austritt stemmen.4

Das Interesse an Insolvenzen ergibt sich also zum einen daraus, dass sie ein sehr aktueller und gut mess­barer Indikator für ökonomisches Scheitern sind. Zum anderen bergen massenhafte Insolvenzen die Ge­fahr von Ansteckungseffekten bis hin zu Bankenkrisen.5 Ein weiterer wichtiger Grund sind die mit In­solvenzen oft verbundenen Arbeitsplatzverluste, die für die betroffenen Beschäftigten mit hohen und über Jahre anhaltenden Einkommens- und Lohnverlusten verbunden sein können.6

Was genau misst die Insolvenzstatistik?

In der akuten Corona-Krise sind möglichst aktuelle Insolvenzzahlen von großer Bedeutung. Da Insolvenzen öffentlich gemacht werden müssen, ist die Datengrundlage grundsätzlich gut. Um zu verstehen, warum sich das aktuelle Insolvenzgeschehen trotzdem schwer abbilden lässt, lohnt ein kurzer Blick auf die Grundlagen der Statistik für Unternehmensinsolvenzen.

Ein Insolvenzverfahren beginnt damit, dass Schuldner oder Gläubiger einen Insolvenzantrag beim zuständi­gen Amtsgericht stellen. Dieser Antrag kann bis zur Entscheidung des Gerichts über die Insolvenzeröffnung wieder zurückgezogen werden, und auch das Gericht kann den Antrag als unbegründet ablehnen. Auch wenn einem Antrag in der Regel ein Eröffnungsentscheid folgt, sind Anträge bis zu diesem Gerichtsentscheid nur vorläufig und bilden nicht die Grundlage der Insolvenzstatistik. Letztere basiert auf den Eröffnungsent­scheidungen der Insolvenzgerichte. Wird der Antrag angenommen, entscheidet das Gericht entweder, dass das Insolvenzverfahren eröffnet wird, oder es erkennt die Insolvenz an, weist den Antrag aber mangels Masse ab. Im letzten Fall wird zwar kein Verfahren eröffnet, aber beide Entscheidungen erlauben die Fest­stellung der Insolvenz eines Unternehmens und werden somit in der Insolvenzstatistik als Unternehmens­insolvenz erfasst.

Für die Aktualität der Insolvenzstatistik ist es also von großer Bedeutung, wie lange der Zeitraum zwi­schen Antragstellung (also dem Zeitpunkt der ökonomischen Insolvenz) und Gerichtsentscheid (Ein­gang in die Statistik) ist. Meine eigenen Analysen bezogen auf Personen- und Kapitalgesellschaften für das Jahr 2020 deuten darauf hin, dass für die Hälfte der Insolvenzen innerhalb von zwei Monaten nach Antragstellung ein Gerichtsentscheid vorliegt, für drei Viertel der untersuchten Insolvenzen lag der Ent­scheid nach 83 Tagen vor. Somit bilden Gerichtsentscheidungen das Insolvenzgeschehen von vor etwa zwei Monaten ab. Da die amtliche Statistik weitere zwei Monate benötigt, um die amtlichen Insolvenz­zahlen zu ermitteln, stehen diese also etwa vier Monate nach Antragstellung zur Verfügung – ein zu lan­ger Zeitraum, um in der akuten Krise einen Überblick über das Insolvenzgeschehen zu bekommen. Ab­hilfe schaffen die Zahlen des IWH-Insolvenztrends für Kapital- und Personengesellschaften sowie die vorläufigen Zahlen des Statistischen Bundesamtes, wobei letztere zwar auch Einzelunternehmen um­fassen, dafür aber Abweisungen mangels Masse nicht mitzählen. Da sowohl der IWH-Insolvenztrend als auch die vorläufigen Zahlen des Statistischen Bundesamtes auf die Gerichtsentscheide zurückgreifen, bilden beide die Insolvenzantragstellungen mit einer Verzögerung von nur etwa zwei Monaten ab.

Die von mir verantworteten Zahlen des IWH Insolvenztrends erfassen ausschließlich Unternehmen mit Handelsregistereintrag, also vorrangig Personen- und Kapitalgesellschaften. Dem Vorteil der einfachen Messbarkeit solcher Insolvenzen steht also potenziell das Problem gegenüber, dass möglicherweise ein wichtiger Teil des Insolvenzgeschehens nicht erfasst werden könnte. Jedoch ist dieses Problem sehr be­grenzt, denn laut amtlicher Statistik sind in der Regel etwa 90% aller von Insolvenz betroffenen Beschäf­tigten in Personen- und Kapitalgesellschaften angestellt (vgl. Abbildung 1). Die im Insolvenztrend er­fassten Unternehmen stehen somit für nahezu alle im Rahmen von Insolvenzen gefährdeten Arbeits­plätze und sie bilden auch den durch Insolvenz ausfallbedrohten Forderungsbestand in Deutschland weitestgehend ab. Der Insolvenztrend antizipiert die reichlich zwei Monate später veröffentlichten amt­lichen Insolvenzzahlen zu Personen- und Kapitalgesellschaften sehr gut (vgl. Abbildung 2) und eignet sich somit als äußerst verlässlicher Frühindikator.

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Das Insolvenzgeschehen 2020

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Corona Shutdown and Bankruptcy Risk

Oliver Holtemöller Yaz Gulnur Muradoglu

in: IWH Online, Nr. 3, 2020

Abstract

This paper investigates the consequences of shutdowns during the Corona crisis on the risk of bankruptcy for firms in Germany and United Kingdom. We use financial statements from the period 2014 to 2018 to predict how pervasive risk of bankruptcy becomes for micro, small, medium, and large firms due to shutdown measures. We estimate distress for firms using their capacity to service their debt. Our results indicate that under three months of shutdown almost all firms in shutdown industries face high risk of bankruptcy. In Germany, about 99% of firms in shutdown industries and in the UK about 98% of firms in shutdown industries are predicted to be under distress. The furlough schemes reduce the risk of bankruptcy only marginally to 97% of firms in shutdown industries in Germany and 95% of firms in shutdown industries in the United Kingdom in case of a three-month shutdown. In sectors that are not shutdown under conservative estimates of contagion of sales losses, our results indicate considerable risk of widespread bankruptcies ranging from 76% of firms in Germany to 69% of firms in the United Kingdom. These early findings suggest that the impact of corona crisis on corporate sector via shutdowns can be severe and subsequent policy should be designed accordingly.

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