Starker Anstieg der Gesetzesfolgekosten für die Wirtschaft
Interviews Bürokratie
Herr Professor Müller, alle Welt redet über Entbürokratisierung und Entlastung der Wirtschaft. Beides wird allgemein als Voraussetzung für mehr wirtschaftliches Wachstum angesehen. Wo stehen wir da in Deutschland im Moment?
Steffen Müller: Ich glaube, dass die deutsche Politik ganz genau erkannt hat, dass immer mehr Stimmen Entbürokratisierung und Entlastung von Wirtschaft, Bürgern und Verwaltung fordern. In fast jeder Positionierung der Politik finden sich zumindest diese Absichtserklärungen. Leider mangelt es jedoch noch zu sehr an der Umsetzung.
Was meinen Sie und woran machen Sie das fest?
Wir haben uns einmal die aktuellen Daten des Normenkontrollrats angeschaut, der für die Analyse der Folgekosten von Gesetzen und die Darstellung der Bürokratiekosten zuständig ist. Wenn wir hier darauf blicken, wie sich der so genannte Erfüllungsaufwand – also die Gesetzesfolgekosten und die Bürokratiekosten – für Unternehmen in der aktuellen Legislaturperiode entwickelt haben, dann sehen wir etwas Überraschendes: Die teuersten Regelungen wurden vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK, Bündnis 90/Die Grünen) und vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS, SPD) eingeführt – also die zwei Kernministerien, wenn es um die Wirtschaft und die Beschäftigten geht. Obwohl gerade hier entlastet werden sollte, wurde genau hier zusätzlich belastet – durch Einmalkosten und laufende Kosten.
Und das liegt woran?
Der Anstieg der Gesetzesfolgekosten lässt sich auf mehrere Faktoren zurückführen. Zum einen wurden in der aktuellen Legislaturperiode zahlreiche neue Gesetze und Verordnungen eingeführt, die für Unternehmen einen erheblichen Erfüllungsaufwand mit sich bringen. Ein prominentes Beispiel ist die „Verordnung zur Sicherung der Energieversorgung über mittelfristig wirksame Maßnahmen“ vom August 2022, die einmalige Zusatzkosten von 5,5 Milliarden Euro verursachte. Noch teurer war das „Gesetz zur Änderung des Gebäudeenergiegesetzes und mehrerer Verordnungen zur Umstellung der Wärmeversorgung auf erneuerbare Energien“, das einmalige Kosten von 12,5 Milliarden Euro und jährliche Kosten von 3,6 Milliarden Euro nach sich zog. Auch die Anpassung des Mindestlohns durch das BMAS im Jahr 2022 führte zu einem jährlichen Erfüllungsaufwand von 5,7 Milliarden Euro für die Wirtschaft. Das sind alles neue Belastungen mit großen Beträgen. Allerdings ist bei der Bewertung der Zahlen auch Vorsicht geboten. Hätte die zuständige Mindestlohnkommission den Mindestlohn angehoben, und nicht das BMAS, wären auch Zusatzkosten für die Unternehmen entstanden – nur eben in geringerem Ausmaß.
Gibt es auch Maßnahmen, die zu einer Entlastung der Unternehmen geführt haben?
Ja, das Bundesministerium der Finanzen (BMF, FDP) hat durch das Wachstumschancengesetz vom August 2023 Regelungen eingeführt, die die Unternehmen um jährlich 1,7 Milliarden Euro entlasten. Diese Maßnahmen zeigen, dass es auch Bestrebungen gibt, die Belastung zu reduzieren. Jüngere Initiativen wie die Wachstumsinitiative aus dem Juli dieses Jahres müssen noch zeigen, ob sie versprochene Entlastungen bringen können.
Warum sehen Sie diese Entlastung als wichtig an? Die deutsche Wirtschaft ist doch aktuell nicht in einer tiefen Krise …
… sie steht aber auch nicht rosig da. Ich erinnere an aktuell gestiegene Arbeitslosenzahlen, ein leicht negatives Wachstum und Insolvenzzahlen von Personen- und Kapitalgesellschaften auf einem außerordentlich hohen Niveau. In einer solchen Zeit sollte man alles dafür tun, Impulse für Wachstum und wo möglich für Potenzialwachstum zu generieren. Eine zunehmende Bürokratiebelastung tut das Gegenteil: Sie kann langfristig die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft beeinträchtigen. Hohe Erfüllungskosten können Investitionen hemmen und insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen übermäßig belasten. Dies könnte zu einem Rückgang der Innovationskraft und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit führen.
Welche Maßnahmen könnten ergriffen werden, um die Bürokratiebelastung zu reduzieren?
Ein Grund für die hohen Kosten ist die hohe Regelungsdichte in Deutschland. Mein Eindruck ist, dass sich unser Land in dem Versuch, möglichst viele wirtschaftliche Risiken durch Verordnungen und Gesetze auszuschalten oder abzuschwächen, am Ende selbst die Hände fesselt. Ich würde mir wünschen, dass die Politik mutig kommuniziert, dass sich Deutschland nach langen Jahren der Kontinuität und Ruhe, die letztlich auch durch aufgeschobene Investitionen und Reformen erkauft wurden, dringend verändern muss. Hier geht es nicht nur um die ökologische Transformation der Wirtschaft. Es geht gleichzeitig auch um einen bevorstehenden Arbeitskräftemangel im Land und gleichzeitig um sich verändernde geopolitische Rahmenbedingungen, die Deutschland aufgrund seiner enormen wirtschaftlichen Verflechtungen vor allem mit China ganz besonders treffen.
Der entscheidende Punkt ist, dass die Gestaltung dieser Veränderungen mit gefesselten Händen schwierig wird. Ich denke an der Tatkraft der Menschen liegt es nicht, aber man muss Veränderungen auch möglich machen. Der Doing-Business-Indikator der Weltbank zeigt zum Beispiel eindrücklich, wie teuer es im internationalen Vergleich ist, in Deutschland ein Unternehmen zu gründen. Einerseits brauchen wir aufeinander abgestimmte Leitplanken des wirtschaftlichen Handelns statt eines Flickenteppichs von Einzelmaßnahmen. Das bedeutet eine systematische Überprüfung und Verschlankung bestehender Regelungen. Zudem sollte bei der Einführung neuer Gesetze der Erfüllungsaufwand noch stärker als bisher abgewogen und auf ein notwendiges Minimum beschränkt werden. Der Normenkontrollrat spielt hierbei eine wichtige Rolle, indem er die Folgekosten neuer Regelungen überwacht und bewertet.
Also erfüllt der Normenkontrollrat seine vorgesehene Rolle nicht?
Der Normenkontrollrat leistet eine sehr wichtige Arbeit bei der Überwachung und Bewertung der Gesetzesfolgekosten. Allerdings habe ich nicht den Eindruck, dass die Ergebnisse des Normenkontrollrats einer breiten Öffentlichkeit bekannt sind.
Die Fragen stellte Wolfgang Sender.
Zur Person: Prof. Dr. Steffen Müller
Leiter der Abteilung Strukturwandel und Produktivität sowie Leiter der Insolvenzforschung am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH)