cover_wiwa_2022-04.jpg

Kommentar: Alter Wein in neuen Schläuchen: Das Bürgergeld

Am 1. Januar 2023 wird Hartz IV durch das Bürgergeld ersetzt. Der neue Name reduziert das Stigma, Grundsicherung zu erhalten. Aber nach wie vor fehlen Anreize, eine Arbeit aufzunehmen, weil Hinzuverdienst angerechnet wird. Auch das unwürdige Sanktionsregime bleibt im Kern bestehen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre die bessere Alternative.

23. Dezember 2022

Autoren Reint E. Gropp

Am 1. Januar 2023 wird Hartz IV durch das neue Bürgergeld ersetzt. Hartz IV mag, seit es 2005 als Teil der Agenda 2010 eingeführt wurde, dazu beigetragen haben, dass sich die Arbeitslosigkeit von rund fünf Millionen im Jahr 2005 bis heute auf weniger als die Hälfte reduziert hat. Wenn überhaupt, dann wurde das durch eine Kombination von Fordern (beispielsweise drohen Sanktionen, wenn ein Arbeitsloser einen „zumutbaren“ Job nicht annimmt) und Fördern (durch Weiterqualifizierung der Arbeitslosen) erreicht. Allerdings hatte Hartz IV von Anfang an ein Imageproblem. Es wurde als unwürdig empfunden, und Arbeitslose nahmen eine Arbeit in vielen Fällen nur auf, weil Sanktionen sie dazu zwangen. Oft führte das zu kurzen und unproduktiven Arbeitsverhältnissen.

Die Einführung des Bürgergeldes sollte daher drei Ziele erreichen: Erstens, die Arbeitsanreize erhöhen. Zweitens, die Würde von Bedürftigen wiederherstellen. Und drittens, das schlechte Image von Hartz IV loswerden. Von diesen drei Zielen wurde leider nur das letzte erreicht: Der neue Name reduziert das Stigma, Grundsicherung zu erhalten. Die anderen beiden Ziele werden dagegen nicht erreicht. Es ist noch immer so, dass der Grenzsteuersatz, also der Steuersatz, der auf den ersten hinzuverdienten Euro angewendet wird, für Bürgergeldempfänger sehr hoch ist, da fast der gesamte Zuverdienst auf das Bürgergeld angerechnet werden muss und es entsprechend reduziert. Wer Bürgergeld empfängt, hat daher wenig Anreiz, eine bezahlte Tätigkeit im Niedriglohnsektor aufzunehmen, obwohl der Mindestlohn immerhin um knapp 25% auf zwölf Euro in der Stunde angehoben wurde. Dieser Fehlanreiz hat übrigens mit der Erhöhung des Mindestsatzes für eine alleinstehende Person um rund 50 Euro auf knapp über 500 Euro im Monat (plus Wohnungskosten) nichts zu tun.

Da die Anreize zur Arbeitsaufnahme fehlen, wird weiterhin auf Sanktionen, das heißt auf Zwang gesetzt. Auch wenn die Sanktionen etwas gelockert wurden, ist es doch noch immer der Einzelfallentscheidung des zuständigen Mitarbeiters im Jobcenter überlassen, ob eine bestimmte Arbeit dem Empfänger zuzumuten ist. Wenn eine solche Arbeit nicht aufgenommen wird, kann das Bürgergeld signifikant gekürzt werden. Die Unwürdigkeit dieser Art von Kontrolle ist also auch im neuen Bürgergeld gegeben.

Was wäre die Alternative? Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde sowohl die Arbeitsanreize verbessern als auch die Macht der Arbeitsagenturen brechen, zu entscheiden, welche Arbeit aufgenommen wird. Bedingungslos bedeutet: Jeder bekommt das Grundeinkommen und kann unbegrenzt dazuverdienen. Unwürdige Verhandlungen mit der Arbeitsagentur über „zumutbare“ Arbeit würden der Vergangenheit angehören. Zudem wäre es, wenn man alle anderen Sozialleistungen streicht, mit dem gegenwärtigen Steuersystem zu finanzieren. Und: Unter der vorherrschenden Arbeitskräfteknappheit wäre es relativ leicht einzuführen gewesen. Leider eine verpasste Chance mehr der gegenwärtigen Regierung.1

1 Vgl. Mitteldeutscher Rundfunk (MDR): Warum ein Grundeinkommen besser als Bürgergeld wäre. Gropps Wirtschafts-Podcast vom 07.12.2022.

Außerdem in diesem Heft

cover_wiwa_2022-04.jpg

Aktuelle Trends: Hohe Umsätze in gasintensiven Industrien – aber niedrige Produktion

Oliver Holtemöller

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 4, 2022

Abstract

Die gasintensiven Wirtschaftszweige wie die Chemie oder die Herstellung von Holz- und Papierwaren konnten ihre Umsätze im Jahr 2022 deutlich ausweiten. Zugleich haben sie aber die Produktion erheblich reduziert.

Publikation lesen

cover_wiwa_2022-04.jpg

Wie stark beeinflussen menschliche Entscheidungen im Forschungsprozess die Qualität der empirischen Ergebnisse?

Michael Koetter Shuo Xia

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 4, 2022

Abstract

Wie bedeutend ist das menschliche Element für die Genauigkeit empirischer Erkenntnisse in den Wirtschaftswissenschaften? Die Unsicherheit empirischer Schätzungen wird üblicherweise als ein statistisches Phänomen betrachtet. Unbekannte Parameter einer Grundgesamtheit werden anhand einer Stichprobe geschätzt, deren Erzeugung zu so genannten Standardfehlern führt. Forschende treffen jedoch viele unbeobachtete Entscheidungen, die nicht per se richtig oder falsch sind, sich aber auf das Ergebnis der Schätzung auswirken. Beispiele hierfür sind die Wahl der Software, die Art der Datenbereinigung oder die Spezifikation der Kontrollvariablen, um nur einige zu nennen. Wir haben an einem großen crowd-basierten Feldexperiment teilgenommen, bei dem sich herausstellte, dass dieser evidenzgenerierende Prozess von Forscher zu Forscher stark variiert, wodurch eine neue Art von Unsicherheit entsteht: so genannte Nicht-Standardfehler (NSE). 164 Teams von Finanzökonominnen und Finanzökonomen testeten sechs Hypothesen an einer identischen Stichprobe von Finanzmarktdaten. Das wichtigste Ergebnis ist, dass die Nicht-Standardfehler beträchtlich sind und die gleiche Größenordnung haben wie die Standardfehler, dass sie aber nach einem anonymen Begutachtungsprozess deutlich abnehmen. Wer sich von Wirtschaftsforschern beraten lässt, sollte sich daher darüber im Klaren sein, dass die Entscheidungen der einzelnen Forschenden die empirische Evidenz mit einer nicht unerheblichen Unsicherheit behaften. Gleichzeitig scheint eine der Veröffentlichung vorausgehende Begutachtung der Ergebnisse durch wissenschaftliche Kollegen (peer-review) die Anfälligkeit für diese Art von Unsicherheit zu verringern.

Publikation lesen

cover_wiwa_2022-04.jpg

Ein neues Instrument für die Prognose der Wirtschaftsaktivität in Deutschland: der PRIMA-Indikator

Katja Heinisch Axel Lindner

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 4, 2022

Abstract

Umfragen zur Einschätzung der wirtschaftlichen Lage sind wichtige Instrumente für die Erstellung von Konjunkturprognosen. Denn ein großer Teil des Wissens über den Zustand einer Wirtschaft liegt nicht gebündelt vor, sondern verteilt sich auf eine Vielzahl von Unternehmen und Haushalten. Allerdings werden die Antworten auf Umfragen auch von öffentlich verfügbaren Informationen beeinflusst, welche Prognostiker besser kennen und beurteilen können als private Haushalte. Im Folgenden wird ein Verfahren vorgeschlagen, mit dessen Hilfe die Einflüsse öffentlicher Informationen aus den privaten Umfrageergebnissen herausgefiltert werden können. Die Ergebnisse zeigen, dass Prognosen der deutschen Konjunktur mit Hilfe eines so erstellten Frühindikators verbessert werden können.

Publikation lesen

Ihr Kontakt

Für Wissenschaftler/innen

Für Journalistinnen/en

Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft LogoTotal-Equality-LogoGefördert durch das BMWK