Die Mathematik der Bauchentscheidungen

Zuerst Kosten und Nutzen sorgfältig abwägen und dann rational entscheiden. So wären wir Menschen vielleicht gerne. Doch tatsächlich entscheiden unbemerkt Emotionen, Erfahrungen, Vorurteile oder sogar Altruismus für uns mit.

Dossier

 

Auf den Punkt

Das menschliche Entscheidungsverhalten ist weit komplexer als es das klassische ökonomische Modell des Homo Oeconomicus, des Nutzenmaximierers, vermuten lässt. Wer hätte beispielsweise gedacht, dass Menschen, die ihren Lohn selbst bestimmen dürfen, sich selbst gar nicht maximal auszahlen lassen, sondern  eher moderat? Dass das Fernsehen die eigene Entscheidung für Nachwuchs oder unsere Einkommens- und Konsumwünsche beeinflusst? Oder dass Menschen mit ökonomischer Bildung bei wirtschaftlichen Entscheidungen tatsächlich anders ticken? Was solche irrationalen Faktoren für die wirtschaftlichen Prozesse in einer Gesellschaft bedeuten, untersuchen Verhaltensökonominnen und -ökonomen am IWH. Dafür bedienen sie sich im Werkzeugkasten der (Sozial-)Psychologie und erdenken Experimente und Studien, um die Lücken im Modell des Homo Oeconomicus aufzuspüren und zu schließen.

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Ein Feld, auf dem solche Abweichungen vom nutzenmaximierenden Idealbild eher die Regel als die Ausnahme sind, ist die Arbeitswelt. Unternehmen brauchen produktive Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, um erfolgreich zu sein. Damit diese Produktivität aber erhalten bleibt oder sich sogar steigert, reicht es als Unternehmen nicht, nur am Gehalt der Belegschaft anzusetzen, nach dem Motto: Viel hilft viel. Andere Faktoren, wie die Sinnhaftigkeit von Arbeit oder das Gefühl, fair behandelt zu werden haben ebenfalls Einfluss darauf, wie produktiv die Belegschaft arbeitet.


Wenn Beschäftigte beispielsweise erfahren, dass eine bereits erledigte Aufgabe im Nachhinein sinnlos war, strengen sie sich auch bei zukünftiger Arbeit weniger an. Das heißt, Arbeit ohne Sinnhaftigkeit ruft nicht nur negative Emotionen wie Enttäuschung und Ersetzbarkeit im jeweiligen Moment hervor, sondern beeinflusst auch die zukünftige Arbeitsmotivation. Das fanden IWH-Verhaltensökonomin Sabrina Jeworrek und Koautor sowie Koautorin mithilfe eines großangelegten Experiments heraus. Dieser Befund darf aber nicht verwechselt werden mit einem anderen: Angestellte wünschen sich durchaus auch Information über Rückschläge ihres Unternehmens. Wenn beispielsweise eine Kampagne in der Vergangenheit gescheitert ist, ist es sinnvoll, die Belegschaft darüber in Kenntnis zu setzen und diese Tatsache nicht zu verschleiern. Denn die Angestellten werden durch den Rückschlag nicht demotiviert, wie man erwarten könnte – im Gegenteil. Sie strengen sich beim nächsten Versuch noch mehr an, wenn sie die Aufgabe als sinnvolle Herausforderung begreifen können.
In einer weiteren Studie entdeckte Jeworrek: Beschäftigte werden unproduktiver, wenn sie erleben, dass der Arbeitgeber Kolleginnen und -kollegen unfair behandelt – auch dann, wenn sie selbst gar nicht betroffen sind. Für das Experiment wurden 195 Probanden für zwei Arbeitseinsätze in einem Callcenter eingestellt. Einem Teil der Belegschaft wurde willkürlich gekündigt und diese Maßnahme mit Kosteneinsparungen begründet. „Wir wollten, dass die Situation möglichst unsozial und unfair wirkt“, so Jeworrek. Und nicht nur die Produktivität sank, die Probanden und Probandinnen machten auch länger Pause und verließen den Arbeitsplatz früher.

Das Problem der Unfairbehandlung von Kollegen und Kolleginnen haben Selbstständige nicht. Doch auch deren Verhalten wird von verborgenen Faktoren beeinflusst: Ob sie überhaupt vom Unternehmergeist gepackt werden, hängt beispielsweise auch davon ab, welche Fernsehprogramme sie in ihrer Jugend sehen konnten. Oder ob sie über ausreichend Finanzmarktwissen verfügen. Denn ökonometrische Befunde legen nahe, dass mehr Finanzmarktwissen zu mehr Selbstständigkeit führt. Sollte sich die Politik also mehr unternehmerische Aktivität in Deutschland wünschen, wäre die Verbreitung positiver Rollenmodelle, ökonomische Grundbildung in den Lehrplänen und Informationen über Finanzen ein wichtiger Ansatzpunkt. Sobald eine Person dann selbstständig ist, verändert das außerdem ihren Charakter: Wird ein Mensch selbstständig, wird er auch risikobereiter – und erhöht damit wiederum auch die Wahrscheinlichkeit, selbstständig zu bleiben.

Doch auch wenn wir arbeitslos sind, werden wir vom Kontext mitbestimmt: IWH-Ökonom Steffen Müller fand beispielsweise heraus, dass sich Arbeitslosigkeit der Eltern auf deren Kinder auswirkt. Besonders interessant dabei: Jungen und Mädchen reagieren unterschiedlich auf die Arbeitslosigkeit der Eltern. War der Vater arbeitslos, ist zwar die Wahrscheinlichkeit künftiger Arbeitslosigkeit sowohl bei den Söhnen als auch den Töchtern höher. Gleichzeitig existiert bei Töchtern aber eine Gegenbewegung, die bei Söhnen nicht auftritt: Ihre Investitionen in Bildung steigen.

Egal aber, ob eine Person nun angestellt, selbstständig oder arbeitslos ist, ihr subjektives Wohlbefinden hängt stark davon ab, wie sie ihre Stellung innerhalb ihrer sozialen Gruppe wahrnimmt. Auch dies kann Einfluss auf grundlegende persönliche Einstellungen, zum Beispiel gegenüber Ausländern und Ausländerinnen haben: Vergleicht eine Person ihr Einkommen mit dem des Freundeskreises und fühlt sich finanziell unterlegen, wirkt sich diese Tatsache negativ auf die Sympathie gegenüber Ausländern und Ausländerinnen aus – selbst dann, wenn diese Person eigentlich zu den Besserverdienenden gehört.

Menschen handeln und entscheiden nicht immer vernünftig, sie sind fehlbar. Unbewusste Faktoren bestimmen die Richtung unserer Entscheidungen und viele dieser Faktoren entziehen sich unserem Einfluss. Sich die Mechanismen dahinter bewusst zu machen kann aber helfen, den Menschen und seine Rolle in der Volkswirtschaft zu verstehen, seine Potenziale aufzudecken und zu fördern.





Publikationen zum Thema "Verhalten"

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Der Börsengang und die interne Organisation des Unternehmens

Daniel Bias Benjamin Lochner Stefan Obernberger Merih Sevilir

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 1, 2024

Abstract

In diesem Beitrag wird untersucht, wie Unternehmen ihre Organisation anpassen, wenn sie erstmalig an die Börse gehen (<i>initial public offering, IPO</i>). Im Zuge des Börsengangs wandeln sich Unternehmen in eine hierarchischere Organisation um und verstärken die Aufsicht durch das Management. Organisatorische Funktionen in den Bereichen Rechnungswesen, Finanzen, Informationstechnologie und Personalwesen gewinnen an Bedeutung. Sie tauschen einen großen Teil ihrer Belegschaft und fast ihr gesamtes Management aus, um ihr Humankapital an die neue Organisation anzupassen. Die neue Organisation erleichtert interne Versetzungen und Beförderungen. Insgesamt ist das Unternehmen durch den Börsengang einem Wandel unterworfen, der die Abhängigkeit des Unternehmens von einzelnen Beschäftigten verringert und den Produktionsprozess effizient organisiert.

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Frühkindliche Betreuung erhöht den Arbeitsmarkterfolg von Müttern ohne Abitur

Henning Hermes Marina Krauß Philipp Lergetporer Frauke Peter Simon Wiederhold

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 3, 2023

Abstract

In den meisten Ländern wirkt sich die Geburt eines Kindes negativ auf den Arbeitsmarkterfolg von Müttern aus, insbesondere bei Müttern mit niedrigerem Schulabschluss. In diesem Beitrag werden die Ergebnisse eines Feldexperiments in Deutschland vorgestellt, in dem Familien bei der Bewerbung für einen Platz in einer Kindertagesstätte (Kita) unterstützt wurden. Die Ergebnisse zeigen, dass der verbesserte Zugang zu frühkindlicher Betreuung die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Mütter ohne Abitur in Vollzeit arbeiten, und deren Haushaltseinkommen steigert. Um den Arbeitsmarkterfolg von Müttern zu verbessern, sollte die Politik den Zugang zu frühkindlicher Betreuung erleichtern und die Zahl der Kita-Plätze noch weiter erhöhen.

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Wie stark beeinflussen menschliche Entscheidungen im Forschungsprozess die Qualität der empirischen Ergebnisse?

Michael Koetter Shuo Xia

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 4, 2022

Abstract

Wie bedeutend ist das menschliche Element für die Genauigkeit empirischer Erkenntnisse in den Wirtschaftswissenschaften? Die Unsicherheit empirischer Schätzungen wird üblicherweise als ein statistisches Phänomen betrachtet. Unbekannte Parameter einer Grundgesamtheit werden anhand einer Stichprobe geschätzt, deren Erzeugung zu so genannten Standardfehlern führt. Forschende treffen jedoch viele unbeobachtete Entscheidungen, die nicht per se richtig oder falsch sind, sich aber auf das Ergebnis der Schätzung auswirken. Beispiele hierfür sind die Wahl der Software, die Art der Datenbereinigung oder die Spezifikation der Kontrollvariablen, um nur einige zu nennen. Wir haben an einem großen crowd-basierten Feldexperiment teilgenommen, bei dem sich herausstellte, dass dieser evidenzgenerierende Prozess von Forscher zu Forscher stark variiert, wodurch eine neue Art von Unsicherheit entsteht: so genannte Nicht-Standardfehler (NSE). 164 Teams von Finanzökonominnen und Finanzökonomen testeten sechs Hypothesen an einer identischen Stichprobe von Finanzmarktdaten. Das wichtigste Ergebnis ist, dass die Nicht-Standardfehler beträchtlich sind und die gleiche Größenordnung haben wie die Standardfehler, dass sie aber nach einem anonymen Begutachtungsprozess deutlich abnehmen. Wer sich von Wirtschaftsforschern beraten lässt, sollte sich daher darüber im Klaren sein, dass die Entscheidungen der einzelnen Forschenden die empirische Evidenz mit einer nicht unerheblichen Unsicherheit behaften. Gleichzeitig scheint eine der Veröffentlichung vorausgehende Begutachtung der Ergebnisse durch wissenschaftliche Kollegen (peer-review) die Anfälligkeit für diese Art von Unsicherheit zu verringern.

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Erinnerung an soziale Isolation des Lockdowns macht Menschen egoistischer

Sabrina Jeworrek Joschka Waibel

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 3, 2021

Abstract

Nachdem Teilnehmer eines Online-Experiments an die soziale Isolierung des Lockdowns erinnert wurden, verhielten sich diese egoistischer als eine neutrale Vergleichsgruppe. Allerdings beurteilten Teilnehmer eines weiteren Experiments, die ebenfalls an die soziale Isolation im Lockdown erinnert wurden, ein solches egoistisches Verhalten als prinzipiell sozial unangemessen. Daraus lässt sich schließen, dass lediglich die Neigung zur Befolgung sozialer Normen, welche menschliches Verhalten in den verschiedensten Lebenssituationen maßgeblich beeinflussen, durch die soziale Distanzierung gesunken ist. Auch für eine Zeit nach der Bewältigung der Corona-Pandemie werfen diese Ergebnisse Fragen auf: Wie lässt sich in einer digitalisierten Welt, in der persönliche Interaktionen immer seltener werden, die Bereitschaft zur Einhaltung sozialer Normen aufrechterhalten?

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Kommentar: Wir brauchen eine neue Corona-Strategie

Reint E. Gropp

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 1, 2021

Abstract

Die gegenwärtige Corona-Strategie der Bundes­regierung, wenn man sie denn so nennen kann, konzentriert sich darauf, besonders gefährdete Personen durch Impfung zu schützen und die Ansteckung aller anderen durch den Lockdown zu vermeiden. Sie ignoriert, dass Menschen im täglichen Leben immer Risiken eingehen und dabei auch Risiken berücksichtigen, die durch das Verhalten anderer entstehen. Sie entscheiden selbst, wie stark sie sich gefährden, je nach ihrer persönlichen gesundheitlichen Situation und Risikoaffinität. Die Möglichkeit, Risiken einzugehen, ist ein inhärenter Teil einer freiheitlichen Gesellschaft: Die Gesellschaft vertraut prinzipiell dem Einzelnen, einigermaßen vernünftige Entscheidungen zu treffen – und die Konsequenzen zu tragen, wenn die Dinge schiefgehen. Der Staat setzt dabei die Rahmenbedingungen, aber niemals mit dem Ziel, das Risiko für den Einzelnen auf null zu drücken.&nbsp;

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