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Kommentar: Brauchen wir ein Öl- und Gasembargo?

Die russische Wirtschaft ist durch die westlichen Sanktionen nach dem Einmarsch in die Ukraine schwer getroffen. Die Wirtschaft schrumpft um über 8%, die Inflation hat sich auf knapp 20% erhöht. Die meisten internationalen Firmen haben sich aus Russland zurückgezogen. Viele reiche Russen haben keinen Zugang mehr zu ihren Vermögenswerten im Ausland, Kapitalverkehrskontrollen verhindern, dass Russen und russische Firmen Fremdwährung kaufen können, und sowohl die russischen Banken als auch die russische Zentralbank haben fast keine Möglichkeiten mehr, mit ausländischen Banken Transaktionen durchzuführen. Gleichzeitig hat Putin das Gegenteil von dem erreicht, was er laut eigener Aussage wollte: eine Schwächung der NATO, der Europäischen Union und des Westens im Allgemeinen. Schweden und Finnland haben um die Aufnahme in die NATO gebeten und damit die gemeinsame Grenze der NATO mit Russland um über 800 km verlängert. Die Chancen, dass die Ukraine in die EU aufgenommen wird, haben sich deutlich erhöht, und der Westen ist mit wenigen Ausnahmen (Ungarn, Türkei) geeinter denn je.

17. Juni 2022

Autoren Reint E. Gropp

Selbst Deutschland hat sich wohl inzwischen entschlossen, die Ukraine auch mit schweren Waffen zu beliefern, obwohl man manchmal noch immer nicht den Eindruck hat, dass der deutsche Kanzler verstanden hat, worum es eigentlich geht, und dass man sich gerade eben nicht hinter der „deutschen Geschichte“ verstecken kann. Darüber hinaus wehrt sich die Ukraine deutlich mehr, als Putin augenscheinlich erwartet hat, und fügt der russischen Armee eine peinliche Schlappe nach der anderen zu.

Warum brauchen wir dann noch ein Öl- und Gasembargo? Immerhin ist die deutsche Abhängigkeit von russischem Öl, und noch mehr von russischem Gas, sehr groß. Rund 30% der deutschen Ölimporte und über die Hälfte der deutschen Gasimporte kommen aus Russland. Ein Embargo beider Energiequellen würde laut Schätzungen der Wirtschaftsforschungsinstitute vom April dieses Jahres rund fünf Prozent Wachstum kosten, was bedeutet, dass im laufenden Jahr statt eines Wachstums von rund 3% eine Kontraktion von 2% zu verzeichnen wäre. Diese Schätzung ist eher eine Übertreibung der Kosten eines Embargos, da seit April die Gasspeicher aufgefüllt wurden (vgl. den Aktuellen Trend in dieser Ausgabe). Ist es das wert? Und wäre es überhaupt möglich?

Die erste Frage beantwortet sich danach, wie problematisch man es findet, dass der Westen und speziell Deutschland den russischen Krieg gegen die Ukraine finanziert. Die Einnahmen Russlands aus Energieexporten haben sich aufgrund der steigenden Preise um rund 40% erhöht. Der Rubel ist nach einer kurzen Schwächephase daher auch wieder auf das Vorkriegsniveau gestiegen und hat es der russischen Zentralbank ermöglicht, die Zinsen wieder zu senken. Gleichzeitig ist unstrittig, dass die Ukraine nicht nur sich selbst, sondern das gesamte westliche Wertesystem und unser Modell einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung verteidigt. Da scheinen ein paar Prozent weniger Wachstum, gerade auch wenn der Staat bei den niedrigen Einkommen unterstützend eingreift, zu verschmerzen zu sein.

Einige Beobachter, insbesondere aus der Industrie, haben aber argumentiert, dass speziell ein Gasembargo (bei Öl ist man weniger besorgt, und die EU hat ja auch einen Kompromiss beschlossen) im Winter zu frierenden Menschen und dem Abschalten ganzer Industriezweige führen würde. Ich denke, dass man diese Aussagen als von Eigeninteresse getriebene Schreckgespenste abtun kann. Denn es bleibt dabei unklar, warum eine Kombination von Wiederhochfahren der Kohle- und wohl auch Atomkraftwerke in Verbindung mit einem forcierten Ausbau der erneuerbaren Energien sowie Energieeinsparungen (die sich durch die höheren Preise von selbst einstellen würden) und Flüssiggasimporten das Problem nicht lösen sollten. Es bleiben natürlich Risiken, aber ich denke, unsere Freiheit sollte es uns wert sein, jetzt konsequent zu handeln. 

Außerdem in diesem Heft

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Aktuelle Trends: Deutsche Gasspeicher erreichen jahreszeitüblichen Füllstand

Oliver Holtemöller Christoph Schult

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 2, 2022

Abstract

Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wird intensiv diskutiert, welche Folgen ein Lieferstopp für russisches Gas für die deutsche Konjunktur hätte. Die Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose hat in ihrem Frühjahrsgutachten berechnet, wann in einem solchen Fall die Gasnachfrage in Deutschland nicht mehr vollständig bedient werden könnte und es somit zu einer Rationierung von Gas kommen würde. Diese Berechnungen basierten auf der Annahme eines Lieferstopps Mitte April. Da die deutschen Gasspeicher zu Jahresbeginn unterdurchschnittlich befüllt waren, wäre infolge eines solchen Lieferstopps im Winter 2022/2023 mit einer Rationierung der deutschen Industrie und damit mit erheblichen konjunkturellen Einbußen zu rechnen gewesen. 

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Das Potenzial von Bankkreditspreads für die Konjunkturprognose

Daniel Streitz

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 2, 2022

Abstract

Prognosemodelle für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung verwenden häufig marktbasierte Indikatoren wie Spreads von Unternehmensanleihen, die den Risikoaufschlag gegenüber einem Referenzzins angeben. Anleihespreads bilden jedoch nur die Entwicklung von Risiken für Unternehmen ab, die regelmäßig Anleihen emittieren – im Durchschnitt größere, sichere Firmen. Neuartige Daten zu Bankkrediten, die im Sekundärmarkt gehandelt werden, erlauben auch die Konstruktion von Kreditspreads. Kreditmarktdaten umfassen ein breiteres Spektrum an Firmen, inklusive kleinerer Firmen, die stärker von Finanzmarktfriktionen betroffen sind. Tests zeigen, dass Kreditspreads tatsächlich mehr Informationen über wirtschaftliche Entwicklungen beinhalten als Anleihespreads und daher das Potenzial haben, Prognosemodelle zu verbessern.

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Fallende Lohnquoten: Die Rolle von Technologie und Marktmacht

Matthias Mertens

in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 2, 2022

Abstract

Die Lohnquote, definiert als die Summe der Arbeitnehmerentgelte geteilt durch die Gesamtproduktion einer Volkswirtschaft, ist in den letzten 40 Jahren in vielen Ländern gefallen. Das Fallen der Lohnquote besitzt potenziell weitreichende Implikationen für das Ausmaß an Ungleichheit und für den Wohlstand von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Daneben kann eine fallende Lohnquote auch ein Anzeichen für einen Anstieg der Firmenmarktmacht sein. Anhand von Mikrodaten zum deutschen Verarbeitenden Gewerbe untersucht dieser Artikel, welche Rolle technologischer Wandel und steigende Firmenmarktmacht als Ursachen für das Fallen der Lohnquote spielen. Es zeigt sich, dass technologischer Wandel und ein Anstieg der Firmenmarktmacht, insbesondere auf Arbeitsmärkten, jeweils die Hälfte der fallenden Lohnquote im deutschen Verarbeitenden Gewerbe erklären. Daher können politische Maßnahmen, die Firmenmarktmacht reduzieren, nicht nur eine effizienzsteigernde Wirkung entfalten, sondern, als ein Nebeneffekt, auch den Anteil der Löhne an der Gesamtproduktion erhöhen.

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